Reader zur Fachkräfteinitiative.International
17. August 2022Neues aus den FKI-Projekten: Das Jugendamt Nürnberg, II
23. August 2022Fachkräfteinitiative.International – Internationale Verständigung in Krisenzeiten!
Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Wolfgang Schröer, Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim
Seit dem Kick-Off zur Fachkräfteinitiative.International im November 2021 haben sich die Bedingungen in der Internationalen Jugendarbeit und Kinder- und Jugendhilfe durch den Krieg gegen die Ukraine verändert. Die folgenden Punkte, die einige Ausführungen aus dem Keynote-Vortrag der Kick-Off-Veranstaltung aufgreifen, sollen Anregungen bieten, um gemeinsam die Fachkräfteinitiative. International zu gestalten und darüber hinaus für eine weitere internationale Öffnung der Kinder- und Jugendhilfe jugendpolitisch einzutreten.
Internationale Kinder- und Jugendarbeit als Friedens- und zivilgesellschaftliche Verständigungsarbeit
Die Fachkräfteinitiative.International bekommt durch die gegenwärtigen Krisen und den Krieg gegen die Ukraine eine stärkere politische Aufladung, die den Kern der internationalen Kinder- und Jugendarbeit in den Vordergrund rückt. Die internationale Kinder- und Jugendarbeit war und ist von ihren Anfängen bis in die Gegenwart dadurch begründet, dass sie nicht nur Begegnungen zwischen jungen Menschen in den unterschiedlichen Regionen der Welt organisieren möchte, sondern vor allem angesichts von Krieg und Krisen im 19. und 20. Jahrhundert Friedensarbeit und transnationale Verständigung leisten will. Sie soll nicht nur Verständigung zwischen den jungen Menschen befördern, sondern auch gegenseitige Vorurteile bearbeiten und nachhaltig transnationale zivilgesellschaftliche Zukünfte gestalten. Dies ist der jugendpolitische Kern und die normative Grundlage der internationalen Kinder- und Jugendarbeit: Sie ist eine zivilgesellschaftliche transnationale Arbeit zur Stärkung des Rechts von jungen Menschen auf ein friedliches Zusammenleben weltweit.
Fachkräfteinitiative.International ist mehr als Kompetenzoptimierung von Fachkräften
Wenn wir uns heute in der Fachkräfteinitiative. International über die internationale Kinder- und Jugendarbeit hinaus für eine Internationalisierung der Kinder- und Jugendhilfe einsetzen, gilt es an diesen politischen und normativen Kern anzuknüpfen und sich dessen zu vergewissern. Die Fachdiskussionen fokussieren mitunter stark auf die Kompetenzentwicklung und Standards sowie innovative Methoden der internationalen Zusammenarbeit von Fachkräften. Dieser Fokus sollte nicht die zivilgesellschaftliche transnationale Perspektive, über die Grenzen hinweg nachhaltig friedliche Zukünfte mit jungen Menschen zu gestalten, überdecken. So kann die Internationalisierung der Kinder- und Jugendhilfe nicht allein als Projekt der Weiterbildungsoptimierung von Fachkräften zur Verbesserung der fachlichen Standards sowie eines fachwissenschaftlichen Austauschs begriffen werden. Dies sind wichtige Nebeneffekte zur Qualitätssicherung, doch sie sollten im Kern an einer transnationalen und zivilgesellschaftlichen Verständigungs- und Friedensarbeit von jungen Menschen ausgerichtet sein. Dies ist eine Herausforderung, für die immer wieder neu jugendpolitisch Räume und Ressourcen erstritten werden müssen – auch gegen andere vorherrschende politische Schwerpunktsetzungen gerade in Krisenzeiten.
Das Europäische Jahr der Jugend 2022 als politischer Rahmen
Diese Räume und Ressourcen für die internationale Kinder- und Jugendarbeit und -hilfe sind gegenwärtig neu infrastrukturell abzusichern. Die Covid-19-Pandemie und die damit einhergehenden Regulierungen haben die internationale Mobilität sowie die internationalen Beziehungen in der Kinder- und Jugendhilfe in eine Situation gebracht, so dass ein Wiederaufbau des Jugend- und Fachkräfteaustausches notwendig ist. Diesen Wiederaufbau sollten wir gerade jetzt als Chance sehen, mit den Partnern die internationale Kinder- und Jugendarbeit in den Vordergrund der Jugendpolitik zu rücken. Das Europäische Jahr der Jugend 2022 könnte hier ein Ansatzpunkt sein. Es könnte den Rahmen bieten, um ein eigenes jugendpolitisches Zukunftsprogramm gerade angesichts der Krisen zu etablieren und erstreiten, so dass grenzüberschreitende Jugendpolitik nicht an den Rand gedrängt wird. Die Verständigung unter den jungen Menschen und die Zukunftsperspektive der jungen Menschen ergibt sich nicht einfach aus der Krisenbewältigung der etablierten (Erwachsenen-)Welt; sie muss jugendpolitisch eingefordert werden.
Internationale Verständigung als generativer Kern der Internationalisierung der Kinder- und Jugendhilfe
Die internationale Kinder- und Jugendarbeit kann als generativer Kern der Internationalisierung der Kinder- und Jugendhilfe angesehen werden. Sie hat den skizierten politischen und zivilgesellschaftlichen Rahmen erarbeitet, an dem sich auch die Fachkräfteinitiative.International orientieren kann. So zeigt sich ebenfalls in der Geschichte der Kinder- und Jugendhilfe, dass sich unterschiedliche Initiativen des internationalen Fachkräfteaustauschs im 20. Jahrhundert an der zivilgesellschaftlichen Verständigung von jungen Menschen orientiert und diese zum Ausgangspunkt genommen haben.
Historisches Beispiel I: Settlement zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Als ein Beispiel kann die Settlement-Bewegung in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Zu dieser Zeit baute zum Beispiel Friedrich Siegmund-Schulze in Berliner Stadtteilen Jugendhäuser als soziale Arbeitsgemeinschaften auf, die er unter anderem „Kaffeeklappe“ nannte. In diesen Jugendhäusern sollten junge Arbeiter*innen, die zum Beispiel aus Polen neu nach Berlin kamen, einen gemeinsamen Ort der Verständigung finden. Gleichzeitig gab er eine Zeitschrift heraus, die Akademisch-Soziale Monatsschrift, in der er während des 1. Weltkriegs Tagebucheinträge von Alix Westerkamp abdruckte und 1913 zu einem (wir würden heute sagen) Fachkräfteaustausch nach Chicago gereist war. Westerkamp schreibt: „Es wird Zeit, daß ich Dir sage, wo ich eigentlich bin. Chicago Commons ist ein Settlement, nach Hull-House das älteste und größte von Chicago. Ob Du nun sehr viel klüger bist? […] Hier ist das Nationalitätenproblem bestimmend für fast alle soziale Arbeit. Die große Masse der Bevölkerung – bestimmt die große Masse der Arbeiterbevölkerung – besteht aus Einwanderern, denen die Vereinigten Staaten das Land der Verheißung sind, das sie ohne jede Kenntnis seiner Lebensbedingungen, ja auch nur seiner Sprache, in blinden Vertrauen betreten.“5 Weiter führt Westerkamp dann aus, wie in dem Hull House alltägliche Angebote der Zusammenarbeit im Stadtteil gemacht werden und wie in den USA vor Ort eine Verständigungsarbeit unter den „Nationen“, wie sie es nennt, geleistet wird.
Historisches Beispiel II: Federation of Educative Communities
Als ein anderes Beispiel kann die Gründung der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGFH) in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg angesehen werden. Sie wurde gegründet durch die FICE – die International Federation of Educative Communities – die selbst 1948 ihre Arbeit aufgenommen hat. Auf deren Homepage heißt es: „FICE was founded under the auspices of UNESCO in 1948, at a time when schools, children’s homes and children’s villages had been set up to meet the needs of millions of children displaced or orphaned by World War II. Many of the children had travelled a long way from their homes in the course of the War, as refugees or transported by Government decision. They were no longer in settled communities, but mixed with children from other countries and cultures, with other languages. It was felt that an international network would help people learn from each other and be able to support each other in their challenging task of creating a positive future for the children.“
Zur Unterstützung von jungen Menschen in prekären Lebenslagen und angesichts von Flucht und Vertreibung, sollte die FICE einen internationalen Fachkräfteaustausch aufbauen, um voneinander zu lernen, wie „Educative Communities“ weltweit gestaltet werden können. Wir sehen hier ein Bild von einem FICE-Kongress zu Beginn der 1970er Jahre. Es ist geradezu ein klassisches Beispiel des organisierten Fachkräfteaustausches. Bis heute finden regelmäßig FICE-Kongresse statt, in denen ein weltweiter Austausch organisiert wird.
Aktuelles Beispiel: Care Leavers Convention
Als drittes Beispiel, in dem ebenfalls das gemeinsame länderübergreifende zivilgesellschaftliche Engagement junger Menschen im Mittelpunkt steht, kann die erste weltweite digitale Care Leavers Convention 2020 angesehen werden, in 2022der Care Leaver*innen, also junge Menschen, die eine Zeit ihrer Kindheit oder Jugend in Pflegefamilien oder Heimeinrichtungen aufgewachsen sind, zusammen mit Fachkräften aus mehr als 70 Ländern, die Situation der jungen Menschen angesichts der Covid-19-Pandemie diskutiert haben. Gemeinsam wurden transnationale Forderungen und Perspektiven zur weltweiten Verbesserung der Lebenslagen von Care Leaver*innen entwickelt. So ist insbesondere die transnationale Vernetzung und Verständigung der Care Leaver*innen weltweit gestärkt worden und ein gemeinsamer, politischer Forderungskatalog entstanden.
Zivilgesellschaftliche Position von jungen Menschen weltweit stärken
Warum führe ich hier diese Beispiele auf? Sie zeigen, dass es durchaus einen internationalen Fachkräfteaustausch in der Geschichte und Gegenwart der Kinder- und Jugendhilfe gibt. Zudem weisen sie darauf hin, dass es in diesem Austausch immer auch darum geht, die zivilgesellschaftlichen Positionen von jungen Menschen zu stärken. Die Verwirklichung der Kinder- und Jugendrechte sollte der Kern des internationalen Fachkräfteaustausches in der Kinder- und Jugendhilfe sein. Dies wird insbesondere deutlich, wenn man auf die transnationalen Politiken rund um die UN-Kinderrechtekonvention und die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen blickt. Wenn wir heute heute von einem rechtebasierten Ansatz in der Kinder- und Jugendhilfe sprechen, so ist dieser ohne die internationalen Politiken und die Stärkung der Verständigungsprozesse der jungen Menschen weltweit nicht möglich.
Internationale Kinder- und Jugendhilfe als Surplus
Diese Beispiele können aber auch nicht verdecken, dass die internationale zivilgesellschaftliche Verständigung der jungen Menschen, die weltweite Stärkung der Kinder- und Jugendrechte und der internationale Fachkräfteaustausch in der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland weiterhin oft als ein Extrafeld oder eine eigene zusätzliche Welt – als Surplus – neben der Nationalen angesehen wird. So hat sich zwar bspw. auf den großen Kinder- und Jugendhilfetagen der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) inzwischen auch ein eigenes sehr interessantes fachliches Europa-Programm etabliert, das weiter ausgebaut wurde. Doch noch immer wirkt die internationale und selbst europäische Öffnung der Fachöffentlichkeit wie ein zusätzliches Arbeitsfeld und nicht verzahnt und nur selten selbstverständlich verflochten mit den alltäglichen und politischen Diskussionen rund um die Kinder- und Jugendhilfe. Gerade gegenwärtig angesichts der Folgen der Covid-19-Pandemie und des Krieges gegen die Ukraine sollte darum umso intensiver daran gearbeitet werden, dass die transnationalen Verflechtungen und Verständigungen im Alltag junger Menschen und der Kinder- und Jugendhilfe jugendpolitisch in den Mittelpunkt gerückt werden.
Kindheit und Jugend ist heute nur transnational zu verstehen
Eine internationale und transnationale Verständigung erscheint auch darum von besonderer Bedeutung, da Kindheit und Jugend heute in sog. postmigrantischen Gesellschaften transnational verstanden werden muss. Die Alltagswelten von jungen Menschen sind nicht aus dem sozialen Zusammenleben im Bild eines nationalstaatlichen Containers zu begreifen. Sie sind vielfältig verflochten mit unterschiedlichen regionalen, nationalen, europäischen und weltweiten Phänomenen und Entwicklungen. Wenn hier von „transnational“ gesprochen wird, dann bedeutet dies nicht, dass nationale Einflüsse und die Bedeutung des Nationalstaats bestritten werden. Es geht vielmehr darum, das Nationale nicht als die eigentliche, vorherrschende – quasi natürliche – Rahmung aller sozialen Prozesse zu begreifen, sondern die Verflechtungen von lokalen, nationalen und internationalen Alltagswelten in Kindheit und Jugend wahrzunehmen. Diese finden vor Ort statt und sind in jedem Jugendzentrum, in den Einrichtungen der Hilfen zur Erziehung, aber auch in jeder Kindertageseinrichtung und Schule zu beobachten. In der Forschung ist in diesem Zusammenhang vom ‚methodologischen Nationalismus‘ die Rede, den es zu bearbeiten gilt. Damit ist gemeint, dass das Nationale zum umfassenden Beschreibungs- und Erklärungsrahmen gemacht wird und es nicht in seiner politischen Bedeutung zu reflektieren.
Mobilität – Ein Rahmen um transnationale Verständigung auch unter Fachkräften zu beginnen und den methodologischen Nationalismus aufzubrechen
Internationale Begegnungen und Mobilität können entscheidend sein, um eine transnationale Verständigung zu beginnen: Zu beobachten, wie in anderen Regionen regionale, nationale, europäische, weltweite Phänomene und Entwicklungen miteinander verflochten sind, wo Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind, kann für junge Menschen und Fachkräfte eine sozial-öffnende Erfahrung sein. Wenn das Alltagsleben von Kindern und Jugendlichen heute transnational zu verstehen ist, dann sollten sich auch die Fachkräfte der Kinder und Jugendhilfe nicht einer Internationalisierung ihres Wissens verschließen. Sie haben selbst wahrzunehmen, wie die Erfahrungsräume der Kinder und Jugendlichen gestaltet sind und wie sich darin auch unterschiedliche Verflechtungen, aber auch Nationalisierungen abbilden sowie Rassismen ausbilden können. Sie haben ihr eigenes Erfahrungswissen entsprechend zu öffnen. In den Fachdiskussionen besteht insbesondere auch eine Tendenz zum methodologischen Nationalismus mus. Die Kinder- und Jugendhilfe wird zu häufig als deutsche Kinder- und Jugendhilfe begriffen, als wenn sie allein in dem „Container“ Deutschland entstanden wäre und in diesem verstanden werden könnte.
Vier Schlüsselfragen für die Fachkräfteinitiative.International
Abschließend sollen vier Schlüsselfragen vorgeschlagen werden, die in der Fachkräfteinitiative.International zukünftig diskutiert werden können:
- Wie können die heimlichen und offenen Mechanismen in den Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe bearbeitet werden, die dazu führen, dass die transnationalen Verflechtungen im Alltag von Kindern und Jugendlichen nicht wahrgenommen werden?
Dies erscheint grundlegend, damit Internationalität vom „Surplus“ zum selbstverständlichen Alltag in der Fachentwicklung wird. Internationale Fachkräfteentwicklung ist nicht allein eine Methode zur Kompetenzentwicklung von Fachkräften in Deutschland. - Wie können junge Menschen ihre Erfahrungen in transnationalen Alltagswelten und Verflechtungen sowie Diskriminierungserfahrungen mit den Fachkräften teilen und die internationale Öffnung in der Organisationsentwicklung mitgestalten?
Dies würde bedeuten, die transnationalen Alltags- und Mobilitätserfahrungen junger Menschen nicht mehr als „Problem“ zu etikettieren, sondern sie als Ausgangspunkt der Fachkräfteentwicklung zu begreifen. - Wie können interkulturelle und -nationale Begegnung, transnationale Erfahrungsräume, Diversitätssensibilität und Anti-Diskriminierung zu Strukturmaximen der Kinder- und Jugendhilfe werden?
Seit dem Achten Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung gelten Prävention, Dezentralisierung, Partizipation, Lebensweltorientierung und Integration als Strukturmaximen der Kinder- und Jugendhilfe. Diese gilt es weiterzuentwickeln: Interkulturelle Begegnung, transnationale Erfahrungsräume, Diversitätssensibilität und Anti-Diskriminierung sowie Inklusion sollten heute als Strukturmaximen der Kinder- und Jugendhilfe anerkannt werden. - Wie kann es gelingen, damit die internationale zivilgesellschaftliche Verständigung und Verwirklichung der Rechte junger Menschen zu einem zentralen Handlungsrahmen der Fachkräfteentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe werden?
Dies würde auch bedeuten, einen veränderten politischen Blick auf die Rechte der jungen Menschen weltweit in den unterschiedlichen Regionen der Welt zu richten. Das Recht auf ein gewaltfreies Aufwachsen, auf eine friedliche, gerechte und zivilgesellschaftliche Zukunftsgestaltung haben alle jungen Menschen. Darum ist die Kinder- und Jugendhilfe verpflichtet, diese Rechte grenzüberschreitend mit den jungen Menschen zu verwirklichen – so schwer es gegenwärtig auch erscheinen mag.